Fachkräftemangel oder Recruitingkrise?
Auf allen Plattformen kann man es lesen, in diversen hochkarätigen Interviews kann man es hören und auch ich habe nach sieben Jahren kontinuierlichen Recruitings dieses Lied angestimmt: Deutschland hat massiven Fachkräftemangel, insbesondere in der IT. Aber stimmt das überhaupt?
Im folgenden Artikel werde ich einen Teil der Erfahrungen, welche wir als Gruppe sowie einige Freunde und Kollegen in meinem Umfeld gemacht haben zusammenfassen. Es ist mir dabei sehr wichtig zu sagen, das es bei viel berechtigter Kritik immer auch positive Ausnahmen gibt – HR Mitarbeiter*innen, die sich große Mühe geben eine passende Lösung zu finden, als auch Headhunter*innen, die ernsthaft Einsatz in diesem Kontext zeigen.
Die Ausgangsbasis
Seit einigen Monaten befinde ich mich, erstmals seit fast 10 Jahren, auf der anderen Seite des Prozesses wieder. Ich entwerfe Lebensläufe, formuliere Anschreiben und Bewerbungen. Nun möchte ich mir nicht selbst auf die Schulter klopfen, aber selbst meine Kritiker müssen zugeben, das ich bei weitem nicht zum Bodensatz des Bewerberpools gehöre. Es müsste also eigentlich ein Leichtes sein, oder?
Nun kommt in diesem Fall erschwerend hinzu, das ich nicht allein auf der Suche bin, sondern gemeinsam mit drei weiteren Personen eine neue berufliche Heimat finden möchte. Und da haben wir die erste Abweichung von einer definierten Norm – es wird nicht die letzte bleiben. Wir wollen gern zu 98% aus dem Homeoffice arbeiten, über die letzten Jahre haben wir eindrucksvoll bewiesen, das dies sehr gut funktioniert. Und wir hätten gern ein Gehalt, das unseren Fähigkeiten angemessen ist. Darüber hinaus suchen wir nicht nach stupider Lohnarbeit, sondern bringen Leidenschaft für unsere Tätigkeit mit und wollen gefordert und auch gefördert werden, lernen und uns weiter entwickeln. Eigentlich der Traum eines jeden Arbeitgebers, eine eingespielte Gruppe aus High Performern.
Der direkte Kontakt
Im ersten Schritt haben wir also ein paar Personalabteilungen angeschrieben und unser Angebot dargelegt. Die ganze Sache kann ja, so waren wir aufgrund des vielbesprochenen Fachkräftemangels und der Zuspitzung des ganzen im Big Data Umfeld überzeugt, nicht lange dauern. Das war irgendwann in 2023. Was folgte, inzwischen waren es mehr als ein paar Bewerbungen, waren eine Vielzahl von Reaktionen, die sich auf die folgenden Stichpunkte zusammenfassen lassen:
- Wir haben Ihren Text nicht weiter als 1,5 Zeilen gelesen, glauben Sie sind ein Headhunter und möchten nicht mit Ihnen zusammen arbeiten.
- Wir haben derzeit keinen Bedarf.
- Wir akzeptieren keine Initiativbewerbungen.
- Wir akzeptieren keine Bewerbungen per E-Mail, bitte verwenden Sie unser non-/teil-funktionales Portal.
Ein Großteil dieser Bewerbungen erfolgte bei Firmen, welche derzeit öffentlichkeitswirksam von Fachkräftemangel in der IT und tausenden zu besetzenden Stellen erzählen. Hier zeichnete sich insbesondere angesichts der Firmengröße ein interessantes Bild. Während in kleinen / mittelständischen Unternehmen die Mitarbeiter*innen in der Personalabteilung eher flexibel, motiviert und lösungsorientiert arbeiten, fühlt sich in größeren Unternehmen niemand in der Personalabteilung zuständig für Sonderfälle. Alles was dort nicht in ein vordefiniertes Muster passt, wird ohne weitere Prüfung abgelehnt. Das sich hier mit minimalem Einsatz gegebenenfalls 6stellige Headhunter Kosten einsparen lassen, stieß durchgehend auf Desinteresse. Sinnvolle Gespräche kamen grundsätzlich nur zu Stande, wenn direkter Kontakt zu einer fähigen Bereichsleitung oder C-Level Management bestand.
Der Umweg über Headhunter*innen
Schnell wurde uns klar, das wir parallel zum direkten Weg über die Personalabteilungen auch Headhunter*innen in unseren Prozess einbinden wollten. Als wir vor gut 10 Jahren letztmalig als Bewerber Berührungspunkte mit dieser Branche hatten, konnten diese weitestgehend durch Kompetenz und Einsatz überzeugen. Inzwischen haben wir über 25 verschiedene Headhunter*innen im Gespräch gehabt – zwischenzeitlich mussten wir uns sogar ein Ticket System aufsetzen, um diesem Chaos Herr zu werden – und das Ergebnis ist mehr als ernüchternd. Während es auch hier positive Beispiele gibt, die durchaus kompetent auftreten und willens sind Einsatz zu zeigen, arbeiten viele Headhunter*innen doch auf dem qualitativen Niveau von Massen abfertigenden Immobilienmaklern. Auch hier lassen sich die Erfahrungen entsprechend zusammenfassen:
- Wir versprechen Ihnen das Blaue vom Himmel herunter, aber nach diesem Gespräch hören Sie nie wieder von uns.
- Wir haben keine wirklichen Kontakte zu den Unternehmen, sondern greifen nur auf eine Datenbank mit offenen Stellen zu.
- Wollen Sie nicht vielleicht doch für das halbe Gehalt im Call Center / Customer Support arbeiten?
Teilweise war die Qualität der Zusammenarbeit so schlecht, das wir uns gezwungen gesehen haben, einen Prozess zu etablieren, bei welchem sich die Headhunter*innen zuerst bei uns bewerben müssen. Die überwältigende Mehrheit der Headhunter*innen kommuniziert dabei nicht proaktiv, sondern reagiert bestenfalls auf Nachfrage, teilweise allerdings auch gar nicht mehr. Und während wir natürlich die Zusammenarbeit mit Headhunter*innen fortsetzen werden, kann ich aus Erfahrung nur empfehlen, im Vorfeld gründliche Sondierungsgespräche durchzuführen.
Wie geht es bei uns weiter?
Wie schon mehrfach erwähnt, sei auch an dieser Stelle noch einmal heraus gestellt, das es auch durchaus positive Erfahrungen gibt. Wir befinden uns nach wie vor in produktiven Gesprächen. Zwischenzeitlich haben wir parallel zur (vor uns bevorzugten) Festanstellung auch über eine Firmengründung nachgedacht. Allerdings sollen wir hier gar nicht im Zentrum dieses Artikels stehen.
Fazit: Zwischen Hoffnung und Realität
Unsere Erfahrungen im Bewerbungsprozess haben uns gezeigt, dass der viel diskutierte Fachkräftemangel in Deutschland nicht nur eine Frage der Verfügbarkeit qualifizierter Arbeitskräfte ist, sondern auch der Rekrutierungspraktiken, die dringend modernisiert werden müssen. Die Schwierigkeiten, die wir als hochqualifizierte Gruppe in der IT-Branche erlebt haben, spiegeln eine tiefer liegende Recruitingkrise wider, die durch unflexible Bewerbungssysteme und eine oft oberflächliche Herangehensweise seitens der Personaler*innen und Headhunter*innen charakterisiert wird.
Trotz dieser Hindernisse möchten wir den Blick nach vorn richten und diesen Artikel als Denkanstoß für Unternehmen und Recruiter*innen nutzen. Es ist an der Zeit, Bewerbungsprozesse zu überdenken und an die heutige Arbeitswelt anzupassen. Unternehmen, die offen für innovative Bewerbungsformate sind, die die Bedeutung von Homeoffice und angemessener Bezahlung anerkennen und die bereit sind, über traditionelle Rekrutierungsmuster hinaus zu denken, werden nicht nur die aktuellen Herausforderungen meistern, sondern sich auch als attraktive Arbeitgeber für die Zukunft positionieren.
Wir glauben fest daran, dass eine konstruktive Zusammenarbeit zwischen Bewerber*innen, Unternehmen und Headhunter*innen möglich ist. Eine Zusammenarbeit, die auf Transparenz, Flexibilität und gegenseitigem Respekt basiert, kann die Lücke zwischen talentierten Fachkräften und den Unternehmen, die sie dringend benötigen, effektiv schließen. Lasst uns diesen Artikel als Aufruf zur Veränderung verstehen und gemeinsam an einer Arbeitswelt bauen, die allen zugutekommt.
3 Kommentare
Jennifer S.
Dieser Artikel reflektiert auch meine Beobachtungen: Die fachlichen Spezialisten sind durchaus da, mit dem kompletten Erfahrungs- und Kompetenzpaket—ein Fachkräftemangel besteht lediglich intern in den Personalabteilungen sowie extern bei Recruiting-Dienstleistern.
Auf Bewerbungen und Nachfragen wird nicht reagiert, es gibt keinen definierten Auswahl- und Entscheidungsprozess, interne Verantwortlichkeiten sind nicht geklärt und Kontaktpersonen ohne Vertretung durchgängig krank/im Urlaub/auf Weiterbildung/im Meeting, es besteht kein Bewusstsein für die Arbeitgebermarke und Darstellung nach außen, HR und Hiring Manager kommunizieren nicht miteinander, Recruiter können grundlegende Fragen zur Vakanz nicht beantworten (wen brauchen wir ab wann wofür zu welchen Konditionen?), Gesprächstermine ob remote oder 700 km entfernt vor Ort werden wiederholt verschoben oder kurzfristig abgesagt, nach 4/5/6/7+ Monaten Hin-und-Her wird die „ab sofort“ ausgeschriebene Vakanz letztlich doch nicht besetzt, die Stelle im Folgejahr 1:1 erneut ausgeschrieben… Allein die Erwartung an Interessenten für eine Mitarbeit, das mitzumachen, zeugt nicht von einem professionellen Anspruch.
In ihren Recruitingverfahren präsentieren sich Arbeitgeber mittlerweile chronisch widersprüchlich, unzuverlässig und unverbindlich. Das geht wirklich besser! Allen voran braucht es wie hier aufgezeigt echte, zeitgemäße Recruiting-Expertise.
Kay
Howdy, same here.
Bin gerade dabei eine Auswertung meiner 200 Prozesse zu erstellen. IT, Cloud Bereich. Vsl auf LinkedIn geteilt.
Nebenbei mit dem Gedanken spielend Seminare für IT recruiter mit Unternehmensgrößen 5-200 MA zu geben. Schreib mich an bei Interesse. Könnte über Kollaborationen nachdenken. VG
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